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«Die OP muss bekannter werden»

17. Mai 2024

Grausamste Schmerzen treiben Menschen, die an Trigeminusneuralgie leiden, schier in den Wahnsinn. Oder sogar in den Freitod. Dabei kann den Betroffenen meist geholfen werden. Oft ist eine Operation die Therapie der Wahl.

  • Autor / Autorin Andreas Krebs
  • Lesedauer ca. 5 Minuten
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Der Schmerz kam plötzlich und unerwartet. Isabella H. war bei der Arbeit, als ein stechender Schmerz in ihre linke Wange einschoss. Nach wenigen Sekunden war der Schmerz vorbei. Doch er kam an dem Tag wieder, immer wieder. «Der Schmerz war kaum auszuhalten », erinnert sie sich an jenen Tag Ende September vor zwei Jahren. «Wie ein Messerstich, nur schlimmer. Es tat höllisch weh.»

Für den nächsten Tag vereinbarte sie einen Termin beim Zahnarzt. Doch der Befund war unauffällig. Der Hausarzt meldete sie für eine MRT im Kantonsspital Aarau an. Für die Neurologen des KSA Aarau war die Diagnose rasch klar: Trigeminusneuralgie. Sie zählt zu den seltenen Erkrankungen: In der Schweiz gibt es rund 1000 Fälle pro Jahr. Typischerweise tritt die Erkrankung erst ab 50 Jahren und nur einseitig auf. Frauen sind häufiger betroffen als Männer.

Ursache des extremen Schmerzes ist meist ein Blutgefäss an der Unterseite des Gehirns, das auf den Trigeminusnerv drückt, der u. a. das Berührungsempfinden im Gesicht steuert. Bei einer Trigeminusneuralgie können kleinste Reize wie ein Windhauch, Kälte oder eine Kaubewegung heftigste Gesichtsschmerzen auslösen. Mitunter wagen Betroffene kaum noch, etwas zu essen oder zu trinken. Nicht wenige verlieren dadurch sehr viel Gewicht oder denken sogar an Suizid. Zwar dauern die Schmerzattacken meist nur wenige Sekunden; sie können aber 50-mal oder noch häufiger am Tag auftreten. Meist sind die Symptome so eindeutig, dass bereits aufgrund ihrer die Diagnose gestellt werden kann. Die gute Nachricht: Den Betroffenen kann meist geholfen werden.

Medikamente haben oft schwere Nebenwirkungen

Die Therapie der ersten Wahl sind Medikamente, sogenannte Neuroleptika. Sie müssen in der Regel dauerhaft eingenommen werden und heilen die Ursache nicht, sondern unterdrücken lediglich den Schmerz. Zudem können sie schwere Nebenwirkungen haben, da sie nicht nur am Nerv, sondern im ganzen Körper wirken: Halluzinationen, Hautausschläge, Müdigkeit, Depression. Langfristig können sie auch die Leber und andere Organe schädigen.

Auch Isabella H. vertrug die Medikamente nicht gut: «Der Schmerz war zwar relativ rasch weg. Aber ich war wie unter Drogen und mir war ständig übel und schwindelig, sodass mir das Gehen schwerfiel. Zudem war ich lärmempfindlich, oft müde und zitterte häufig», erinnert sie sich. Ein anderes Medikament brachte nicht die erhoffte Verbesserung. «Ich war völlig fertig.»

Im Internet las sie eines Tages von der Möglichkeit der Operation. Auf ihre Bitte hin überwies sie der Neurologe an die Neurochirurgie des KSA Aarau. Im Sommer 2023, nach mehreren Monaten der medikamentösen Therapie, hatte sie einen Termin bei Dr. med. Christian Musahl, Stv. Chefarzt Neurochirurgie.

Die OP ist altbewährt und gut verträglich

«Viele Betroffene kommen erst über Umwege zu uns, häufig schon mit vielen gezogenen Zähnen, weil man dort die Ursache vermutet hat», bedauert der Neurochirurg. Die Trigeminusneuralgie und ihre Therapie sind nicht weitläufig bekannt; dabei kann eine wenig riskante Operation sofort Linderung verschaffen. Die sogenannte Operation nach Jannetta wird seit den 1970er-Jahren angewandt und ist in den meisten Fällen sehr erfolgreich: «Sie führt in fast 90 Prozent der Fälle dazu, dass die Patientinnen und Patienten ohne Medikamente schmerzfrei sind», sagt Musahl. Eine Operation kommt jedoch gemäss Leitlinien der neurologischen Fachgesellschaft erst zum Zuge, wenn die Medikamente nicht gut helfen oder schlecht vertragen werden.

Der Eingriff erfolgt unter Vollnarkose. Hinter dem Ohr wird ein fünflibergrosses Knochenfragment entnommen. Dann gelangt der Neurochirurg oder die Neurochirurgin unter dem Operationsmikroskop zwischen Kleinhirn und Schädelknochen zum Trigeminusnerv. Dort engt meist ein Blutgefäss den Nerv ein. Das Gefäss wird vorsichtig vom Nerv getrennt und ein kleines Stück Kunststoff als Puffer dazwischen gelegt. Es fängt die Pulsation des Blutgefässes auf und verhindert so den Reiz. «Mit der OP bekämpfen wir die Ursache, nicht die Symptome», betont Musahl.

Die OP dauert etwa eine Stunde. Sie wird in der Regel sehr gut vertragen, auch von älteren Patientinnen und Patienten. «Spätfolgen sind extrem selten und oft kommt es zu einer kompletten Heilung», sagt Prof. Dr. med. Gerrit A. Schubert, Chefarzt und Klinikleiter Neurochirurgie am KSA. Gemäss Studien sind zirka drei Viertel aller Patientinnen und Patienten nach der Operation anhaltend, d. h. über 10 bis 20 Jahre, schmerzfrei. Ein weiterer Vorteil der OP: «Die Wirkung ist sofort da und die Beschwerden sind fast immer direkt weg. Die Effizienz der OP ist sehr viel höher als jene der Medikamente», sagt Musahl.

«In erfahrenen Händen ist das Risiko klein»

Und die Risiken? Schubert: «Wir können nicht garantieren, dass nach der OP der Schmerz weg ist. Das ist das grösste Risiko. Aber die Chancen auf Heilung sind sehr gut.» Natürlich gibt es die üblichen Risiken wie Blutungen oder Infektionen. Im schlimmsten Fall könnten Gehirn, Nerven oder Blutgefässe verletzt werden. «In erfahrenen Händen ist das Komplikationsrisiko jedoch sehr gering», sagt der Chefarzt. Er und seine Kolleginnen und Kollegen behandeln bis zu zwanzig Patientinnen und Patienten pro Jahr auf diese Weise. Das sei viel für diese seltene Erkrankung. «Es gibt in der Schweiz nur sehr wenige Kliniken, die diese OP in so hoher Frequenz machen.»

Weitere Therapiemöglichkeiten bei Trigeminusneuralgie sind z. B. die fokussierte Bestrahlung («Cyberknife ») oder das Veröden des Nervs. «Dabei ist die Erfolgsquote jedoch nicht so gross wie bei der OP», sagt Musahl. Zudem seien es destruktive Verfahren: der Nerv werde abgetötet oder betäubt. «Bei der OP hingegen wird die natürliche Anatomie erhalten resp. wiederhergestellt. Deshalb sind es für uns Alternativen, die nur zum Einsatz kommen, wenn die OP nicht wirkt oder nicht möglich ist.» «Wir bieten alle Varianten an», ergänzt Schubert. «Das ist wichtig, damit wir den Patientinnen und Patienten die für sie beste Option anbieten können. Aber die grösste Aussicht auf Erfolg hat eindeutig die OP.»

«Die Operation muss bekannter werden»

Zwar hatte sie grossen Respekt vor dem Eingriff, so nahe am Kleinhirn. «Ich war sehr nervös», sagt Isabella H. «Aber der Leidensdruck war so gross, dass ich mich am 20. Oktober 2023 der OP unterzog.» Diese verlief ohne Komplikationen. Vier Tage später verliess sie das Spital. Seit Anfang Dezember nimmt sie keine Medikamente mehr. Die Schmerzen sind weg. «Mama, du bist wieder so wie früher», hätten ihre Kinder gesagt. Erst da habe sie realisiert, wie sehr sie unter den Schmerzen und Medikamenten gelitten hat. Und wieso erzählt sie Ihre Leidensgeschichte in dieser Zeitung? «Weil es bekannter werden muss, dass es die Möglichkeit der Operation gibt. Sie kann viel Leid verhindern.» Dank der OP ist Isabella H. geheilt. Dafür ist sie Prof. Dr. med. Gerrit A. Schubert und Dr. med. Christian Musahl sehr dankbar.

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