«Wir sind Expertinnen und Experten der eigenen Erkrankung»
23. Mai 2023Selbsthilfegruppen (SHG) leisten Hilfe zur Selbsthilfe. So können sie Betroffenen und Angehörigen eine starke Stütze sein. Davon profitiert das ganze Gesundheitswesen.
- Autor / Autorin Dr. Ulrike Fröhwein
- Lesedauer ca. 7 Minuten
Frau Fischer, wann und wieso haben Sie sich dem Verein Lichen Sclerosus angeschlossen?
B. F.: Gleich nach der Diagnose im April 2014 habe ich mich im Internet über Lichen sclerosus informiert, eine nicht ansteckende, chronische Hauterkrankung im Genitalbereich. So bin ich auf den damals frisch gegründeten Verein LS gestossen, und ich besuchte dessen erste Jahrestagung. Zu der Zeit gab es noch keine LS-Gruppe im Aargau. Zur Diagnosebewältigung und vielleicht auch etwas als «Flucht nach vorn» – ich bin ein proaktiver Mensch mit Helfersyndrom – habe ich kurzerhand beschlossen, hier eine Gruppe aufzubauen. Ich habe durch den Austausch mit anderen Betroffenen viel über die Krankheit gelernt und gemerkt, dass ich mit meinem erworbenen Wissen andere unterstützen kann. Das geht aber nur, wenn man selbst schon gefestigt ist.
Herr Horr, wann und wieso haben Sie sich der Stoma-Selbsthilfegruppe angeschlossen?
W. H.: Erst recht spät, nach der Darm-OP und Reha. Ich bin zu Hause vereinsamt und habe gemerkt, dass ich wieder Anschluss finden muss. Ich musste mich wieder zurechtfinden in der Gesellschaft. Es ist nicht einfach, sich mit Freunden und Verwandten über so ein Thema auszutauschen. Auf beiden Seiten gibt es viele Unsicherheiten und Hemmungen. Im Kantonsspital Aarau wurde ich dann auf die Stoma- Gruppe aufmerksam gemacht. Dort habe ich mich gleich verstanden und wohl gefühlt.
Für wen sind Selbsthilfegruppen geeignet und wann ist der richtige Zeitpunkt, sich einer Gruppe anzuschliessen?
W. H.: Für alle Interessierten, selbst wenn sie nicht selbst betroffen sind. Betroffenen rate ich dazu, möglichst früh mit uns Kontakt aufzunehmen, am besten schon vor der OP. So wissen sie dann, was auf sie zukommt und wie sie damit umgehen können. Bisher kennen uns aber selbst viele Ärztinnen und Ärzte nicht.
B. F.: Wir vom Verein Lichen Sclerosus haben sehr viel Aufklärung gemacht die letzten zehn Jahre, deshalb kennen uns viele Ärzte. Es gibt aber auch solche, die Selbsthilfegruppen eher belächeln. Dabei wäre es wichtig, dass sie die Patientinnen und Patienten ermuntern würden, sich die passende Gruppe zumindest mal anzuschauen. Wenn es dann nichts für einen ist, muss man ja nicht beitreten.
In der Schweiz gibt es rund 2700 Selbsthilfegruppen mit insgesamt etwa 45 000 Mitgliedern. Im Aargau sind 160 Gruppen zu rund 60 Themen registriert. Die Stiftung Selbsthilfe Schweiz setzt sich als Dachorganisation unabhängig vom Thema für die gemeinschaftliche Selbsthilfe ein. Die regionalen Selbsthilfezentren beraten zum Thema Selbsthilfe, vernetzen Selbsthilfeinteressierte mit den bestehenden Selbsthilfegruppen und unterstützen neue Gruppen im Aufbau. Zuständige Stelle im Aargau ist die Selbsthilfe Aargau: www.selbsthilfe-ag.ch.
Über die Website www.selbsthilfeschweiz.ch können alle Gruppen schweizweit online gefunden werden.
Wie konkret können Selbsthilfegruppen Betroffenen helfen?
W. H.: Durch Information, Verständnis und Erfahrung. Häufig geht es um ganz praktische Tipps für den Alltag – wann kann ich wieder baden, wann und wie oft wechsle ich den Beutel...
B. F.: ... wo genau und wie viel Salbe muss ich einstreichen, wie ist es mit dem Geschlechtsverkehr, soll ich die Ernährung umstellen etc.?
W. H.: Vieles sollte ja schon die Ärztin oder der Arzt erzählen.
B. F.: Das tun sie auch durchaus. Aber wenn man so eine Diagnose wie LS bekommt, ist man zunächst nicht aufnahmefähig. Die Fragen tauchen oft erst später auf. Unser Ziel ist es, die Betroffenen zu befähigen, mit der Diagnose umzugehen und den Alltag positiv und konstruktiv mit der Krankheit zu gestalten. Akzeptanz ist der erste Schritt dahin. Wir vom Verein Lichen Sclerosus bieten Austausch an und begleiten Betroffene auch bei der Umsetzung der Therapie. Das ist wichtig, denn viele Frauen sind nicht nur beschämt, sondern auch hochgradig verunsichert. Eine weitere wichtige Aufgabe des Vereins ist die Aufklärung über die Erkrankung selbst, sowohl bei Ärzten wie in der Bevölkerung. Frauen und Männer mit wiederkehrenden Symptomen muss klar sein, dass es nicht normal ist, wenn es ständig juckt und brennt im Intimbereich. Ich z. B. dachte lange, das gehöre einfach zum Mutterwerden mit den Hormonveränderungen. Während dieser Zeit schritt die Krankheit ungehindert voran. Wenn man mit Aufklärung und durch mehr Information die Leidenszeit und die Zeit bis zur richtigen Diagnose verkürzen kann, ist viel gewonnen für die Betroffenen.
Wo sind die Grenzen der Selbsthilfegruppen?
W. H.: Sobald es ins Medizinische geht, sind die Ärzte gefragt. Wir reden auch nicht von Patientinnen und Patienten, sondern von Vereinsmitgliedern. Wenn jemand Patient ist, gehört er zum Arzt.
B. F.: Wir reden von Betroffenen. Lichen sclerosus ist ja eine chronische Erkrankung. Wer einmal betroffen ist, bleibt betroffen. Wir sehen uns als Ergänzung zur Ärztin oder zum Arzt.
Wie konkret läuft ein Treffen ab?
W. H.: Es kommen jeweils um die 15 Mitglieder. Wir haben uns selbst auferlegt, dass wir am Anfang zwingend über das Thema reden. Früher waren wir ein reines Kaffeekränzchen. So hatten es Neumitglieder schwer, in die Gruppe reinzukommen. Der ungezwungene Teil bleibt aber wichtig. Wir driften mehr oder weniger rasch ab und reden dann über Fussball, Stumpen oder das Wetter (lacht). Auch das hilft dabei, mit der Erkrankung umzugehen.
B. F.: Das ist bei uns ganz anders. Wir sind maximal zu zehnt, damit jede genügend Raum hat, und reden nie übers Wetter. Sobald die Frauen zusammenkommen, ist der Boden geebnet: Endlich kann man über etwas reden, worüber man sonst mit niemandem spricht, viele nicht einmal mit der besten Freundin oder dem Partner. Und alle im Raum wissen, wie es sich anfühlt. Es braucht für viele Mut, erstmals in so eine Gruppe zu gehen, aber es wird nie bereut, im Gegenteil. Da sind so viele Fragen und Unsicherheiten. In der Gruppe entsteht eine starke Verbundenheit und man wird endlich verstanden. Bei unseren Treffen geht es von A bis Z nur um die Krankheit und deren Therapie, zumal auch laufend frisch Diagnostizierte dazustossen.
Was muss man mitbringen, auf was sich einlassen, wenn man sich einer Gruppe anschliessen will?
B. F.: Den Mut zu haben, in so eine Gruppe zu gehen, ist nicht zu unterschätzen. Die Hemmschwelle ist relativ gross. Wenn eine Betroffene, die den Weg zu uns gefunden hat, dann der Mut verlässt und sie nichts erzählen will, dann muss sie auch nichts erzählen. Was nicht gut ist, wenn man mit der Motivation in so eine Gruppe geht, alle zu überzeugen, dass sein Weg der einzig richtige ist. Es gibt verschiedene Ansätze. Die Diskussion soll offen bleiben und die Teilnehmer nicht einengen. Es sollen sich alle wohl fühlen.
Was halten Sie vom Projekt «Selbsthilfefreundliche Spitäler»?
W. H.: Ich hoffe sehr, dass das Fahrt aufnimmt. Die Aufklärung im Spital, an der Front, ist sehr wichtig. Es ist dringend nötig, dass Ärztinnen und Ärzte vermehrt aufmerksam machen auf die Selbsthilfe-Option.
B. F.: Das halte ich auch für sehr wichtig. Die Selbsthilfe leistet einen wesentlichen Beitrag für einen gesunden Umgang mit der Krankheit. Die Betroffenen sollen Expertinnen und Experten der eigenen Erkrankung werden. Selbsthilfegruppen können sie dazu befähigen. Die Gemeinschaft aus Menschen, die gleiche oder ähnliche Erfahrungen gemacht haben, kann eine starke Energie freisetzen. Und jede positive Interaktion kann helfen, den Stress nach der Diagnose zu reduzieren, was sich wiederum positiv auf den Verlauf der Krankheit auswirken kann. So leisten wir eine wichtige Arbeit im Gesundheitswesen und ersparen der Allgemeinheit auch Kosten.
Das Onkologiezentrum Mittelland (OZM) des Kantonsspitals Aarau ist auf dem Weg zum «Selbsthilfefreundlichen Spital». Warum das Projekt wichtig ist, erklärt die operative Leiterin des OZM, Ulrike Fröhwein.
Sie hätten in der Vergangenheit schon einiges gemacht, um die Selbsthilfe zu stärken, sagt Ulrike Fröhwein, Projektleiterin «Selbsthilfefreundliches Spital». «Nun wollen wir den SHG eine noch bessere Plattform bieten. Wir wollen noch öfter und früher auf sie hinweisen. Für das medizinische Personal soll es selbstverständlich sein, die entsprechenden Infos an die Patientinnen und Patienten weiterzugeben.» Deshalb habe man im Dezember 2022 einen Massnahmenplan unterschrieben, der festlegt, was umgesetzt werden soll, um bei Selbsthilfe Schweiz die Auszeichnung «Selbsthilfefreundliches Spital» zu beantragen.
Dazu zählt z. B. auch die Vernetzung von SHG. «Und wenn jemand eine neue Gruppe aufbauen will, unterstützen wir ihn dabei. Wir prüfen auch, ob wir eigene SHG aufbauen sollen, etwa beim Melanom. Das ist nicht unser Fokus, aber wenn wir sehen, dass es einen Bedarf gibt, dann unterstützen wir das gerne.»
Von der Selbsthilfe profitieren nicht nur die Patientinnen und Patienten, sondern auch die Spitäler und das ganze Gesundheitswesen, ist Fröhwein überzeugt. «Selbsthilfe ermöglicht einen Kompetenzzuwachs durch die Ergänzung des Expertenwissens von Ärzteschaft und Pflegenden mit dem Erfahrungswissen von Betroffenen.» Besonders wertvoll sei zudem das soziale Netz, das SHG bieten, so Fröhwein weiter. «Wir versuchen im Spital alles, um die Patientinnen und Patienten aufzufangen. Aber es ist nochmals eine andere Basis, wenn sie sich mit Gleichgesinnten austauschen können. SHG sind wichtige Auffangnetze.»