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Wenn es um Minuten geht

13. September 2023

Eine fiktive Reportage über einen Notfall mit Helikoptereinsatz aus Sicht eines Patienten.

  • Autor / Autorin KSA
  • Lesedauer ca. 4 Minuten
  • Themen Notfall
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Ich habe beim Poker meinen Porsche verzockt. Mein Ein und Alles, seit mich Viviane verlassen hat. Ich Looser! Ich hätte ihm morgen Schlüssel und Wagen übergeben sollen. Im Beisein seiner Freundin, meiner Frau! Wir sind noch nicht einmal geschieden. Und das Schlimmste: Ich darf meine Kinder nicht mehr sehen! Und jetzt das: Mit 100 Sachen raste ich auf einen mächtigen Baum zu. In letzter Sekunde konnte ich das Steuer herumreissen. Ich bin nicht tot. Aber ich sterbe vor Schmerzen und dämmere weg.

 

Die Rettung des Schwerverletzten wird eingeleitet

Jemand hat die Polizei (117) und die Ambulanz (144) gerufen. Angesichts der Schwere des Unfalls bietet das Sanitätsteam umgehend einen Rettungshubschrauber auf. Auch die Feuerwehr ist schon an der Unfallstelle. Sie schneidet das Dach des Wracks auf, damit sie den Schwerverletzten bergen kann. Ohrenbetäubender Krach holt mich zurück ins Diesseits. Ich habe keine Ahnung, was passiert ist. Da ist nur ein heftiger Schmerz. Und ich höre verschiedene Stimmen. Jemand zerrt mich aus dem Wrack. Der schrille Lärm ist verschwunden. Und noch etwas verschwindet allmählich: der Schmerz.

Bei schweren Unfällen kommt meistens ein Helikopter zum Einsatz. Ein Rettungshubschrauber z.B. der Rega oder der «Alpine Air Ambulance» (AAA) kann in rund zehn Minuten an jedem Ort der Schweiz sein. Das fliegende Rettungsteam muss rasch die richtige Entscheidung treffen. Bevor die verletzte Person in den Helikopter verladen wird, findet die Erstversorgung und Stabilisierung statt. Im Heli hat es dafür keinen Platz. Jemand spricht mit mir aus weiter Ferne; tastet und hört mich ab. Lagert mich in eine schlafsackähnliche Vakuummatratze. Sauerstoff strömt durch Röhrchen in meine Nase. Durch einen venösen Zugang tröpfeln Schmerz- und Beruhigungsmittel in meinen Körper. Deshalb das wohlige Gefühl. Ich bin ganz ruhig. Auch wenn es jetzt wieder laut ist. Und eng. Und alles vibriert. Ich bin…, ja wo bin ich denn?

«Jede Patientin und jeder Patient ist anders. Unsere Routine ist die Struktur.»

Vom Heli in den Schockraum

Der Patient ist längst im Kantonsspital Aarau angemeldet, einem der Zentren für die Behandlung von Schwerverletzten im Mittelland. Während des Flugs informiert die Notärztin oder der Notarzt die diensthabende Pflegefachperson auf der Notfallstation des KSA über den Unfallhergang und den Zustand des Patienten. Auch der Zeitpunkt, wann der Patient ungefähr landet, wird mitgeteilt. Sofort organisiert die Notfallpflege die verschiedenen Beteiligten: Kader- und Assistenzarzt Notfall, Unfallchirurgin/Traumatologin, Anästhesistin, Radiologe und die Pflegerinnen und Pfleger der jeweiligen Fachgebiete. Je nach Bedarf wird das Team um einen Neurochirurgen, eine Hals-Nasen-Ohren-Ärztin oder Gynäkologin erweitert.

Die Notfallpflege informiert das Notfallteam darüber, was es zu erwarten hat. Und noch bevor der Patient landet, versammelt sich das Team im Schockraum, einem speziellen Raum in der Notfallaufnahme, in dem die Erstversorgung schwerverletzter Patientinnen und Patienten stattfindet. Es gibt eine kurze Vorstellungsrunde, damit jede und jeder weiss, welche Fachpersonen anwesend sind und wer welche Aufgaben übernimmt. Die Notfall-Kaderärztin bzw. der Notfall-Kaderarzt hat den Lead im Schockraum. «Mich fasziniert bei Notfällen das Unvorhersehbare», sagt Dr. med. Shawki Bahmad, Leitender Arzt des Zentrums für Notfallmedizin im KSA. «Jede Patientin und jeder Patient ist anders. Unsere Routine ist die Struktur», ergänzt Dr. med. Andreas Lüdin, Oberarzt mbF Anästhesie.

Derweil der Patient zwischen Leben und Tod schwebt, landet der Heli sieben Minuten nach dem Start auf dem Helikopterlandeplatz des KSA Aarau. Eilig bringt der Notarzt den Patienten in den Schockraum. Dort wird er auf eine Liege umgelagert. Noch während der Notarzt das Schockraumteam darüber informiert, was passiert ist und welche Massnahmen er getroffen hat, trifft die Pflege die nötigen Vorbereitungen, nimmt Blut ab, bereitet Medikamente vor etc. Manche Patientinnen und Patienten haben auf ihrem Smartphone ihre Krankengeschichte hinterlegt, samt Medikamenten, die sie einnehmen. Bei Menschen, die schon einmal im KSA waren, liegt eine Medikamentenliste von damals vor. «Das ist ideal», sagt Lüdin. «Aber wir arbeiten mit dem, was wir haben.» Umgehend startet das Schockraumteam mit einer raschen und doch eingehenden Untersuchung des Patienten.

Schockraum, Not-OP und Intensivstation

«Die Schockraumarbeit ist klar strukturiert», sagt Bahmad. «Es läuft immer gleich, und alle wissen, wie es läuft. Jeder hat seine spezifischen Aufgaben.» Zunächst wird die verunfallte Person stabilisiert. «Es gibt eine fixe Reihenfolge, was wir zuerst anschauen – nämlich das, was die Patientin oder den Patienten am meisten gefährdet.» Dies gemäss dem ABCDE-Schema, dem Einmaleins bei Notfällen. Der Anästhesist steht am Kopf des Patienten, beurteilt die Atemwege und leitet falls nötig eine künstliche Beatmung ein. Danach wird der Kreislauf beurteilt, Puls und Blutdruck werden gemessen. «Wir reagieren immer auf die jeweilige Situation. Und die ist sehr individuell. Wenn der Patient blutet, stoppen wir die Blutung, wenn er freie Luft im Brustkorb hat, punktieren wir ihn, um die Luft abzulassen.»

Nach der Überprüfung des ABCDE-Schemas schliesst sich eine zweite, diagnostische Phase an. Da der Patient in unserem fiktiven Fall ein Bauchtrauma hat, besteht die Gefahr von Rissen in Milz und Nieren und einer Quetschung der inneren Organe. Das kann zu inneren Blutungen führen. Eine Computertomographie bestätigt die Befürchtung. Eine Notoperation ist nötig, konstatiert die Chirurgin. Noch im Schockraum wird der Patient auf einen OP-Tisch umgelagert und unter Stabilisierung, Blutgabe und Beatmung mit dem Lift hoch in den Operationssaal verlegt. Seit zwei Stunden läuft die Not-OP. Der Patient steht unter Vollnarkose. Endlich werden seine Werte besser: Puls, Atmung und Temperatur stabilisieren sich. Er wird zur Überwachung auf die Intensivstation gebracht und nach einer Woche auf die Bettenstation verlegt. Ich genese rasch. Dank dem schnellen und professionellen Handeln des gesamten Notfallteams und der Pflege kann ich schon nach drei Wochen das Spital verlassen. Auch bei der anschliessenden Rehabilitation mache ich rasch Fortschritte. Ich sah dem Tod ins Auge und geniesse das Leben wieder. Ich bin allen Beteiligten unendlich dankbar.

Das ABCDE-Schema ist ein medizinisches Bewertungssystem, das von medizinischem Fachpersonal, insbesondere in der Notfallmedizin und der Intensivpflege, verwendet wird, um den Zustand eines Patienten schnell und strukturiert zu beurteilen. Es ermöglicht dem medizinischen Personal, schnell die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um das Leben des Patienten zu retten oder seine Stabilität wiederherzustellen. Das Akronym "ABCDE" steht für die verschiedenen Schritte der Bewertung und richtet sich nach dem traumatologischen Grundsatz "Treat first what kills first":

  1. Airway (A) - Atemwege: In diesem Schritt wird die Durchgängigkeit der Atemwege überprüft, um sicherzustellen, dass der Patient frei atmen kann.
  2. Breathing (B) - Atmung: Hier wird die Atmung des Patienten beurteilt. Es wird nach Anzeichen von Atemnot, unregelmäßiger Atmung, hohen oder niedrigen Atemraten, Brustverletzungen oder anderen Atemproblemen gesucht.
  3. Circulation (C) - Kreislauf: Dieser Schritt beinhaltet die Überprüfung des Herz-Kreislauf-Systems des Patienten. Der Puls, der Blutdruck und die Herzfrequenz werden gemessen und bewertet.
  4. Disability (D) - Neurologischer Status: Hier wird der neurologische Status des Patienten beurteilt. Dies umfasst die Überprüfung der Bewusstseinslage, der Reaktion auf äußere Reize und die Pupillengröße.
  5. Exposure (E) - Exposition: Der Patient wird nach Möglichkeit zur Ganzkörperuntersuchung vollständig entkleidet. Dabei wird vor allem die Stabilität von Körperregionen überprüft, in welchen es in Folge des Traumas zu Einblutungen kommen kann.
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