«KI unterstützt uns im Alltag, entscheidet aber nie»
6. März 2024Künstliche Intelligenz hat das Potenzial, die Welt grundlegend zu verändern. Auch im medizinischen Bereich. Das zeigt ein Besuch in der Klinik für Neurologie im Kantonsspital Aarau.
- Autor / Autorin Prof. Dr. med. Krassen Nedeltchev
- Lesedauer ca. 5 Minuten
- Themen Forschung und Innovation
Überall, wo es grosse Datenmengen gibt, kann KI eingesetzt werden. Zum Beispiel in der Klinik für Neurologie des Kantonsspital Aarau. Dort treffen wir Chefarzt Prof. Dr. med. Krassen Nedeltchev. «Wir nutzen viele lernende Programme», sagt er. «Aber immer, wenn es um eine therapeutische Entscheidung geht, schaut der Mensch drauf. KI unterstützt uns im Alltag, sie entscheidet aber nie.» Das betont er mehrfach: «Was in der Medizin an KI eingesetzt wird, ist streng reguliert. Und am Schluss entscheidet immer der Mensch. Schlussendlich muss der Patient doch dem Arzt vertrauen, KI hin oder her.»
Doch was überhaupt ist KI?
«Künstliche Intelligenz (KI) ist ein Teilgebiet der Informatik», schreibt das Frauenhofer-Institut für Kognitive Systeme IKS. «Diese Intelligenz kann auf programmierten Abläufen basieren oder durch maschinelles Lernen erzeugt werden.» Ein Untergebiet von maschinellem Lernen sind laut IKS künstliche neuronale Netze: «Diese Lernalgorithmen sind von Nervenzellenverbindungen im menschlichen Gehirn inspiriert. Sie werden trainiert, indem ihnen immer wieder Daten vorgelegt werden. Durch diese Wiederholung lernt das neuronale Netz die Daten jedes Mal exakter einzuordnen.» Damit können beim sogenannten Deep Learning immer komplexere Probleme gelöst werden – schnell, präzise und sicher, betont Chefarzt Nedeltchev. «Wir nutzen Deep-Learning-Software bei der Bild-, Muster- und Spracherkennung. Auch um Krankheiten zu erkennen. KI ist nicht mehr aus dem Spitalalltag wegzudenken.»
KI-Anwendungen in der Neurologie
Aus der Neurologie erst recht nicht. Denn viele neurologische Erkrankungen erfordern eine besonders umfangreiche Diagnostik. Als Beispiel nennt Nedeltchev Langzeit-EEG-Messungen, wie sie z. B. zur prächirurgischen Abklärung der Epilepsie gemacht werden. Im KSA bei rund hundert Patientinnen und Patienten pro Jahr. Vier Tage lang werden bei ihnen rund um die Uhr die Hirnströme gemessen. Das gibt enorm viele Datensätze. Wenn ein Mensch diese auswerten müsste, bräuchte es Tage. Deep-Learning-Programme filtern die ungewöhnlichen Daten in wenigen Stunden heraus. «Das ermöglicht es der Neurologin oder dem Neurologen, sich auf das zu konzentrieren, was relevant ist. So kann sehr viel Zeit und Geld gespart werden», sagt Nedeltchev.
KI ist also in der Lage, langwierige Prozesse enorm zu verkürzen. «Zudem ist die Gefahr grösser, ein relevantes Ereignis zu übersehen, wenn ein Mensch die Datensätze auswertet.» Voraussetzung ist, dass die Programme mit Tausenden von Patientendaten trainiert werden. «Die haben wir selbst nicht», sagt Nedeltchev. Aber ob die Daten im KSA, in Hongkong oder in Toronto generiert wurden, spielt keine Rolle. «Den daraus entstandenen Algorithmus können wir für unsere Patientinnen und Patienten nutzen. Wenn wir in einem solchen Netzwerk sind, wo wir mit den Besten der Welt zusammenarbeiten, ist das ein grosser Vorteil für die Bevölkerung.»
Etwas gibt dem Chefarzt aber schon zu denken: «ChatGPT wurde nie dazu programmiert, Schach zu spielen. Und plötzlich kann das Programm Schach spielen. Das ist schon spooky. Wir wissen effektiv nicht, wie sich diese Programme selbst entwickeln werden. Das ist ja das Gemeine: Wir entwickeln eine Energie, die für uns Menschen sehr schädlich sein kann.» Deshalb sei es wichtig, den Einsatz von KI frühzeitig zu regulieren. Die Angst von Patientenseite, die Diagnose oder Behandlung in die «Hände» einer KI zu legen, sei unbegründet, sagt Nedeltchev: «Der medizinische Bereich ist weltweit stark reguliert. Und KI agiert immer nur unterstützend. Sie ersetzt keine Ärztin und keinen Arzt. Sie macht lediglich deren Aufgaben effizienter und präziser.»
KI ist schneller und genauer als der Mensch
Häufig wird KI auch zur Auswertung der Bildgebung genutzt. «Sie kann Unregelmässigkeiten schnell und sehr genau erkennen», sagt Nedeltchev. Zum Beispiel lokale Minderdurchblutungen auf MRT-Aufnahmen. Sie sind ein Marker für Erkrankungen der Hirn-Blutgefässe, die zu Schlaganfällen und Demenz führen können. Auch bei der Analyse von Hirn-MRT-Scans kommt KI zum Einsatz. «Das macht die Arbeit der Neurologinnen und Neurologen nicht nur schneller, sondern auch weitaus genauer», sagt der Chefarzt.
«Bei rund 1200 Patienten pro Jahr machen wir eine KI-Beurteilung der Gehirndurchblutung. Die Software wird auch in den zuweisenden Spitälern eingesetzt», fährt er fort. Diese zeige, wo genau was für ein Ereignis passiert ist – z. B. eine Hirnblutung oder ein Hirnschlag –, wie viel Hirnvolumen schon verloren und wie viel bedroht ist und ob Zeit bleibt, die Patientin bzw. den Patienten zu verlegen oder ob vor Ort alle verfügbaren Mittel eingesetzt werden müssen. «So haben wir unabhängig von der Radiologin oder dem Radiologen eine zweite Auswertung. Das hilft uns bei der Entscheidung, was zu tun ist.»
Braucht es die Expertinnen und Experten der Radiologie also bald nicht mehr? «Das würde ich nicht sagen, nein», meint Nedeltchev. «Aus verschiedenen Gründen.» Es gebe zwar genug Evidenz, dass eine KI die Bilder zuverlässiger beurteilt als eine radiologische Fachperson. Aber zwei Faktoren sprächen für den Menschen: «Erstens trägt die Haftpflicht nie der Entwickler einer Software. Jemand muss aber geradestehen. Und zweitens muss auch jemand die soften Faktoren berücksichtigen, nicht nur die harten Fakten: Wie ist der Allgemeinzustand der Patientin oder des Patienten, was sind ihre bzw. seine Wünsche etc. In der Medizin muss man sich immer alles anschauen. Ich glaube deshalb nicht, dass der Beruf des Radiologen verschwinden wird.»
Dank KI mehr Zeit für Patientinnen und Patienten?
Pflegende und Ärzteschaft würden nicht so schnell durch KI ersetzt, ist Nedeltchev überzeugt. «Im Gegenteil schafft sie uns mehr Zeit fürs Wesentliche. Wir können uns wieder voll und ganz den Patientinnen und Patienten widmen. Wie ist die Hautfarbe, der Atem, wie riecht die Person, wie ist sie gepflegt? Das sind alles Faktoren, die wichtig sein können.» Heute ginge das jedoch oft unter. Denn die Ärztin bzw. der Arzt tippe die ganze Zeit. «Er schaut die Patientin bzw. den Patienten zwar an, ist aber beschäftigt mit Dokumentieren.»
Ähnlich erginge es den Pflegerinnen und Pflegern: «Sie müssen alles dokumentieren.» Assistenzsysteme könnten diese Aufgabe bald übernehmen und am Schluss eines Gesprächs eine Zusammenfassung liefern, meint Nedeltchev. Er spricht von einem riesigen Zeit- und Informationsgewinn. Ausserdem könne KI aufgrund sekundärer Informationen wie Sprachintonation oder Stimmlage beurteilen, ob wir gut drauf sind, ob wir uns mögen usw. «Das ist fantastisch und wird die ganze Sprechstunde und Pflege revolutionieren. Aber auch da, denke ich, wird der Mensch nicht ersetzt.» So könnte KI in der Medizin also sogar für noch mehr Menschlichkeit sorgen.
Neurologie am KSA Aarau
Die Neurologie umfasst die Diagnostik und Therapie von Erkrankungen des Gehirns, Rückenmarks, der Nerven und Muskulatur. Zu unseren Schwerpunkten zählen die Behandlung von Schlaganfällen, Anfallsleiden, Entzündungen des Nervensystems (v.a. Multiple Sklerose), Bewegungsstörungen, Hirntumoren, Schwindel, Schmerz und dementiellen Syndromen (z.B. Alzheimer-Erkrankung).
Wenn der Schwindel anhält und sich nicht eindeutig zuordnen lässt, lohnt sich die Zuweisung in eine Spezialambulanz. In der spezialisierten Sprechstunde der Klinik für Neurologie werden in enger Zusammenarbeit mit der Klinik für Hals-Nasen-Ohren-Erkrankungen entsprechende Untersuchungen und Therapien angeboten.