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Kinder mit seltenen Krankheiten: Der Weg zur Diagnose aus Sicht eines Kinderspitals

11. September 2024

In den Spezialsprechstunden der Kinderspitäler werden viele Kinder
mit seltenen Erkrankungen betreut. Mindestens genauso wichtig ist
aber, bei der Arbeit auf der Notfall- und Bettenstation zu erkennen,
wann es sich überhaupt um eine seltene Erkrankung handelt.

  • Autor / Autorin Prof. Dr. med. Henrik Köhler
  • Lesedauer ca. 5 Minuten
  • Themen Kindermedizin
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Sehen Sie häufig Patienten mit seltenen Erkrankungen im Kinderspital Aarau?

Das ist eine sehr gute Frage. Ich denke, uns sehen viele Kinder mit Seltenen Krankheiten, deutlich häufiger als uns bewusst ist. Der erste Schritt bei einer seltenen Krankheit ist zu realisieren, dass die Beschwerden nicht von typischen, häufigen Krankheiten resultieren, sondern tatsächlich auf eine seltene Krankheit hinweisen. Manchmal ist sehr schnell klar, dass eine seltene Erkrankung vorliegt. Das ist z.B. der Fall, wenn der Stoffwechsel bei einem Neugeborenen völlig entgleist ist. Schwere Stoffwechselentgleisungen können das Leben des Kindes oder auch die Entwicklung stark beeinträchtigen, wenn nicht rasch und konsequent behandelt wird. Die Notfallbehandlung beginnt oft ohne, dass die exakte Krankheit schon identifiziert ist. Wir sind in der Schweiz zum Glück bestens vernetzt. Bei den Stoffwechselerkrankungen können wir uns rund um die Uhr auf kompetente Ansprechpartner in den Referenzzentren verlassen, so dass keine wertvolle Zeit verloren geht.

Parallel zu der Notfallbehandlung gelingt es oft schon innerhalb weniger Tage, die genau Diagnose zu sichern. Der nächste Schritt ist zu planen, wie die optimale weitere Betreuung des Kindes und der ganzen Familie aussieht. Meist kommt auch hier ein Netzwerk aus den Behandelden in der Nähe des Wohnortes des Kindes und den Experten in einem Zentrum zu tragen.

Manchmal ist aber nicht alles so schnell klar und die Kinder und die Familien erleben einen langen, beschwerlichen Weg. 

Ja, leider ist das so. Wir haben beispielsweise auf dem Kindernotfall deutlich mehr als 30'000 Patientenvorstellung jedes Jahr. Man kann sich vorstellen, dass es gar nicht so einfach ist aus der Vielzahl der Patienten herauszufinden, bei welchem Patienten der Durchfall, das Erbrechen, der Husten oder andere Beschwerden von einer seltenen Erkrankung und nicht von z.B. einem «normalen» Infekt herrühren. Leider haben viele Patienten keinen festen Hausarzt oder Kinderarzt mehr, hier würde wahrscheinlich schneller klar werden, dass die häufigen Arztvorstellungen kein Zufall sind.

Können Sie uns einen solchen Fall schildern?

Wir betreuten erst kürzlich einen 8-jährigen Knaben, der sich in den letzten Monaten einige Male mit starkem Erbrechen an verschiedenen Stellen vorgestellt hatte. Die Episoden wurden jeweils als infektiöser Magen-Darm-Infekt eingestuft. Bei der letzten Vorstellung -wieder mit schwerem Erbrechen- wurde klar, dass dies kein einfacher Magen-Darm ist, nicht zuletzt, da die Salzwerte (Elektrolyte) im Blut untypisch waren. Jetzt als es einmal «Klick» bei den Ärzten gemacht hatte, wurden zügig speziellere Blutuntersuchungen veranlasst.
Es handelte sich um eine Nebennierenrindeninsuffizienz, dem sogenannten Morbus Addison. Die betroffenen Kinder und Erwachsene können nicht mehr die richtigen Hormone für Stressreaktion und die Salzregulation im Körper herstellen und müssen diese in Tablettenform einnehmen, um lebensbedrohliche Entgleisungen zu vermeiden.

Kommt man im Kinderspital immer zu einer Diagnose?

Leider nein. Die andere nicht seltene Situation ist: Wir wissen, dass etwas nicht stimmt, aber wissen nicht, was die Ursache ist oder ob die Beschwerden an verschiedenen Organen viele einzelne Erkrankungen, eine unglückliche Häufung sind oder alle Symptome zu einer seltenen Krankheit gehören. In solchen Fällen treffen wir uns in sogenannten Boards, also einer Gruppe von verschiedenen Fachspezialisten, und beraten gemeinsam was dahinterstecken könnte und was die nächsten sinnvollen Schritte zur Diagnose und Behandlung sind.
In einigen Fällen dauert es Jahre, bis die richtige Diagnose – wenn es überhaupt gelingt – auch mit den Fachspezialisten aus der ganzen Schweiz, manchmal aus der ganzen Welt gestellt wird. In meinen Augen lohnt es sich immer dranzubleiben. Wir haben einen Jugendlichen inzwischen seit mehr als 10 Jahren in Behandlung, der als Kleinkind an chronischen Durchfällen, einem ausgeprägten Hautekzem und Nasennebenhöhlenentzündung litt. Es hat mehrere Anläufe und spezielle genetische Untersuchungen gebraucht, um festzustellen, dass all diese Beschwerden eine gemeinsame Ursache in einem wenig bekannten Teil des Immunsystem haben und ein XLPDR-Syndrom besteht. Durch die gute Zusammenarbeit mit den Genetikern und der Immunologie am Universitätsspital Basel haben wir herausgefunden, dass es durch einen glücklichen Zufall bereits ein modernes Medikament gibt, welches für schwere chronisch entzündlichen Darmerkrankung entwickelt wurde bei unserem Patienten gut wirken könnte. Erfreulicherweise wurden die Erwartungen erfüllt und die Behandlung hat gut angeschlagen. Was ich damit auch sagen möchte: Oft können wir im Vorfeld gar nicht abschätzen, welche Folgen die richtige Diagnose hat.

Leider sind die Versicherer und Kostenträger oft nicht gewillt, die Kosten für eine genetische Diagnostik zu tragen. Dies mit dem Argument, dass keine gesicherte Behandlung für eine mögliche Verdachtsdiagnose vorliegt und damit die Diagnose quasi nutzlos sei. Das ist in meinen Augen ein völlig falscher Ansatz. Erstens werden wir so nie Fortschritte machen können. Zweitens hat jeder Patient das Recht auf eine Diagnose. Drittens, dies spiele ich gerne den Kostenträgern zurück: Ohne eine gesicherte Diagnose werden Patienten mit einer nicht-diagnostizierten seltenen Erkrankung oft einer Vielzahl ungezielter, wiederholter Diagnostik oder sogar belastenden Eingriffen (MRT, Operationen etc.) zugeführt, die man sich sparen und dem Patienten ersparen kann. 

Quelle: Der Artikel wurde im KMSK SELFCARE Magazin seltene Krankheiten im Oktober 2024 publiziert. 

Foto: Cornel Waser

Die Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten begleitet Familien und nach der Diagnose seltene Krankheit auf ihrem neuen Lebensweg. 

In der Schweiz sind rund 350'000 Kinder und Jugentliche von einer seltenen Krankheit betroffen. 

Um diese Familien nach der Diagnose «Seltene Krankheit» auf ihrem neuen Lebensweg vertrauensvoll zu begleiten, wurde der gemeinnützige Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten (KMSK) am 20.2.2014 durch die Unternehmerin Manuela Stier gegründet.

Zum Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten

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